Das Thema Zeit wird in der Philosophie seit der Antike diskutiert. Und bereits die menschlichen Frühkulturen differenzieren sich wesentlich durch das Erleben und das Verständnis von Zeit und Zeitlichkeit. In jüngerer Vergangenheit haben sich Psychologie und Neuro- bzw. Kognitionswissenschaften mit Fragen des Zeiterlebens auseinandergesetzt. Welche ihrer Ergebnisse könnten für die choreographische Praxis, für Tanzschaffende und -vermittler interessant sein?
Im Zusammenhang mit der neuro- oder kognitionspsychologischen Erforschung der improvisatorischen und choreographischen Prozesse im Tanz begibt man sich auf die Suche nach der „Argumentation der Choreographie“. Wie verhalten sich Aktivierung und Wachheit, Aufmerksamkeit und das bewusste Erleben von Zeit phänomenologisch und theoretisch zueinander? Der zeitliche Verlauf einer Choreographie oder Improvisation ist mit den drei Dimensionen des Raums, in denen sich der/die Körper bewegen, verwoben und eng verknüpft. Seit Einstein wissen wir, dass Raum und Zeit prinzi-piell ineinander umrechenbar sind. Was heißt das für den Tanz unserer Zeit?
Zeit spielt innerhalb ästhetischer Theorien eine große Rolle, deren Übertragung auf performative Dis-kurse interessieren und die genuin mit der Wahrnehmungspsychologie zusammenhängen (aisthesis = Wahrnehmung, Empfindung). Für Jean-François Lyotard war die zeitliche Dimension zentral für seine von Kant und aus der bildenden Kunst abgeleitete Ästhetik. Er verwendete den Begriff des „Ereignisses“ (l’occurence) zur Definition des Momentes, in dem Kunst entsteht, in dem beim Betrachter etwas „ankommt“ (il arrive – doppeldeutig im Sinne von „es kommt an“ und „es geschieht“). Das „Jetzt" ist in modernen ästhetischen Konzepten zentraler Moment ästhetischer Erfahrung. Ähnlich begründet der Neuropsychologe Ramachandran den (lustvollen) Moment der Kunstrezeption, in dem der Kunstrezipient (nonverbal) Schlüsse zieht, Stimmigkeiten oder Unstimmigkeiten erkennt. Die dadurch entstehende dopaminerge Reaktion durch gleichzeitige Aktivierung bisher unzusammenhängender neuronaler Netzwerke wird als erhöhte Wachheit und Glücksgefühl erlebt. Gilles Deleuze unterscheidet für den Film das Bewegungs-Bild vom Zeit-Bild. Wie geht der zeitgenössische Tanz mit Vergangenheit und Zukunft um?
Neurowissenschaftlich ist die Zeitwahrnehmung von besonderem Interesse, da sie im Gegensatz zu anderen Modi der Wahrnehmung keine eigenen Rezeptoren und kein eigenes anatomisches Wahrnehmungsorgan besitzt und somit vor allem durch körperliche Bewegung erfasst und aus komplexen Wahrnehmungen anderer Modi erschlossen wird. Die für die Bewegungssteuerung zuständigen neu-ronalen Strukturen (Basalganglien, Kleinhirn) spielen auch für Zeitempfinden und Rhythmusgefühl eine zentrale Rolle. Zentrale Rhythmusgeneratoren im Gehirn, die pulsierend neuronale Erregungen erzeugen, kontrollieren neben repetitiven Phänomenen (Atem, Herzschlag, Zittern) aber auch sehr langsame Bewegungen (z.B. Handbewegungen). Eine phänomenologische Untersuchung steht neben der wissenschaftlichen Erforschung kognitions- und neurowissenschaftlicher Experimentalparadigmen aus. Das Empfinden der Zeit ist nur durch körperliche Bewegung möglich. Hierbei spielen die Wahrnehmung physiologischer Prozesse auf Mikro- und Makroebene (Lidschlag, Puls, Atem, Hungergefühl, Müdigkeit) eine zentrale Rolle, die Forschungsgegenstand von Chronobiologie und nichtlinearer Dynamik sind. Das Erleben von Zeit wird durch die Aufmerksamkeit vermittelt und ist somit keineswegs linear gerichtet und gleichförmig, wie unsere Zeitmessung als Konvention mittels Uhren suggeriert. Im versunkenen Flow-Erleben, im Traum, bei Hoch-Stress-Situationen oder nach Traumata (bei wiederkehrenden sog. Dissoziationen) z.B. ist das Raum-Zeit-Kontinuum in der Wahrnehmung offensichtlich nicht mehr aufrecht zu erhalten. Tempoextreme oder wiederholte charakteristische rhythmische Muster haben häufig einen starken Effekt auf das Erleben des sich Bewegenden oder Bewegung Beobachtenden. Dies wird in rituellen Kontexten oder therapeutisch genutzt (Trance, Beruhigung, Aktivierung, Entladung starker Affekte).
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